Die unsichtbare Hierarchie: Warum „alle sind gleich“ eine Illusion ist
In der modernen Arbeitswelt, insbesondere in agilen Kontexten, wird oft das Ideal einer Organisation ohne Hierarchien beschworen. Selbstorganisierende Teams, in denen alle gleichberechtigt sind. Doch wer schon einmal in einem solchen Team gearbeitet hat, weiß: Offizielle Jobtitel und Organigramme zeigen nur einen Teil des Bildes. Darunter existiert eine ebenso mächtige, unsichtbare Dimension des Einflusses: das informelle Autoritätsgefälle.
Ein oft unerkannter Einflussfaktor in Organisationen: informelle Autoritätsgefälle
Es ist ein wesentlicher, wenn auch subtiler Aspekt des Organisationslebens, der die Dynamik von Teams und die Entscheidungsfindung maßgeblich beeinflussen kann.
Warum Hierarchien unvermeidlich sind: Ein Blick in die Psyche
Ein informelles Autoritätsgefälle bezieht sich auf die Macht- und Einflussdynamik in einer Gruppe (einem Team) oder Organisation, die nicht offiziell festgelegt oder durch formelle Positionen oder Titel bestimmt ist.
Die Vorstellung, wir könnten unsere Position einfach ablegen und wären dann alle „gleich“, ignoriert eine fundamentale psychologische Wahrheit. Unsere Rolle, die wir in einem System einnehmen, wirkt tief auf unsere Identität ein. Das Modell der logischen Ebenen von Robert Dilts hilft, dies zu verstehen:
Eine Person agiert auf verschiedenen Ebenen: von der konkreten Umgebung und dem Verhalten über die Fähigkeiten und Werte bis hin zur Identität und dem Sinn (Purpose). Eine Rolle (z.B. „Senior Entwickler“) existiert auf den unteren Ebenen (Umgebung, Verhalten), aber sie formt über die Zeit unweigerlich die höheren Ebenen. Aus der Fähigkeit, komplexe Probleme zu lösen, entsteht der Wert „Qualität ist nicht verhandelbar“. Daraus formt sich die Identität: „Ich bin ein Hüter der Code-Qualität.“

Diese Identität, basierend auf erarbeiteten Fähigkeiten und tiefen Überzeugungen, strahlt eine natürliche, informelle Autorität aus – völlig unabhängig vom offiziellen Titel.
Scrum’s Ideal vs. die gelebte Realität
Der Scrum Guide definiert bewusst nur eine Rolle innerhalb des Entwicklungsteams: die „Developer“. Dies geschieht, um die Kommunikation zu vereinfachen und die kollektive Verantwortung des gesamten Teams für das Produkt zu fördern.
Forschung und tägliche Praxis zeigen, dass auch in Scrum-Teams robuste informelle Hierarchien entstehen. Informelle Führung entsteht, beispielsweise basierend auf wahrgenommener Kompetenz und proaktivem Verhalten. Es ist eine Illusion zu glauben, dass die Abschaffung von Titeln automatisch zu einer gleichmäßigen Verteilung von Einfluss führt. Der „Senior Entwickler“, auch wenn er nun „Developer“ heißt, wird in technischen Fragen oft mehr Gehör finden als der „Junior“.
Die Landkarte der unsichtbaren Macht: Quellen informeller Autorität
Wissensbasierte Autorität
- Fachwissen: Tiefe Expertise in einer kritischen Domäne (z.B. Datenbanken, UX-Design).
- Erfahrung & Seniorität: Langjährige Kenntnis der Unternehmenskultur, der Produktehistorie und vergangener „Fallen“.
- Informationszugang: Wer „weiss, wie der Hase läuft“ oder Zugang zu wichtigen Stakeholdern oder Daten hat.
Soziale Autorität
- Netzwerke: Starke Beziehungen zu einflussreichen Personen inner- und außerhalb des Teams.
- Mentoring: Personen, die andere coachen und unterstützen, genießen als Ratgeber hohes Ansehen.
- Konfliktlösung: Geschickte Vermittler, die dem Team helfen, durch schwierige Phasen zu navigieren.
Persönlichkeitsbasierte Autorität
- Natürliche Führung & Charisma: Personen, denen andere aufgrund ihrer Ausstrahlung und Überzeugungskraft gerne folgen.
- Initiative & Engagement: Die „Macher“, die Themen proaktiv vorantreiben und das Team mitreißen.
- Moralische Integrität: Personen, die aufgrund ihrer gelebten Werte und ethischen Haltung als „moralischer Kompass“ des Teams gelten.
Die zwei Gesichter der informellen Macht
Diese unsichtbaren Hierarchien sind nicht per se schlecht. Sie sind wie die berühmte Medaille mit zwei Seiten:
- Die positive Seite: Sie können Teams enorm beschleunigen. Ein anerkannter Experte kann schnell eine fundierte Entscheidung treffen. Ein Mentor kann neue Mitglieder effektiv einarbeiten. Ein „Gestalter“ (siehe Artikel „Die Rebellen in uns“) kann das Team zu Höchstleistungen inspirieren.
- Die negative Seite: Sie können Innovation ersticken. Wenn die Meinung des „Seniors“ unhinterfragt bleibt, trauen sich andere nicht, neue Ideen zu äussern. Es kann zu Machtspielen, Cliquenbildung und Groupthink führen. Der informelle Führer kann so zum „Bestandsrebell“ oder „Prinzipienreiter“ werden, der Fortschritt blockiert.
Vom Ignorieren zum Gestalten: Das Unsichtbare sichtbar machen
Da wir diese Dynamiken nicht abschaffen können, müssen wir lernen, sie sichtbar zu machen und konstruktiv zu nutzen. Das Ziel ist nicht, den Einfluss von Experten zu negieren, sondern sicherzustellen, dass er nicht zur Unterdrückung anderer Stimmen führt.
- Der richtige Ort: Die Retrospektive in Scrum ist der perfekte, geschützte Raum, um über diese Teamdynamiken zu sprechen. Es geht nicht darum, einzelne Personen zu messen oder zu bewerten, sondern das System zu verbessern.
- Die richtigen Fragen: Statt „Wer hat hier das Sagen?“ können Fragen lauten: „Fühlen wir uns alle wohl dabei, auch eine unkonventionelle Idee gegen die Meinung unserer erfahrensten Mitglieder vorzubringen?“, „Wessen Stimme fehlt in unseren Diskussionen oft?“ oder „Wie stellen wir sicher, dass wir Entscheidungen auf Basis der besten Idee treffen, nicht auf Basis der lautesten Stimme?“
Die Privatsphäre und der Respekt vor dem Einzelnen sind hierbei oberstes Gebot. Es geht um das Bewusstsein und den Dialog. Denn wie die Metapher treffend sagt:
Des Königs Macht steht und fällt mit der Anerkennung seines Thronanspruches
Ein eingespieltes Team erkennt die „Könige auf Zeit“ in seinem Reich an, sorgt aber gleichzeitig dafür, dass der Thronanspruch immer wieder neu durch die Qualität der Ideen und den Beitrag zum gemeinsamen Ziel legitimiert werden muss – und nicht durch den Status allein.

