Nicht nur eine gesellschaftliche Thematik
In vielen Situationen fühlen wir uns gezwungen, unser Handeln zu erklären oder zu verteidigen – sei es gegenüber Familie, Freunden, Kollegen oder sogar Fremden. Dieser Druck kann aus unterschiedlichen Quellen stammen: gesellschaftliche Normen, soziale Erwartungen oder unser eigenes Perfektionismus-Streben.
Das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, steht oft im direkten Gegensatz zu dem Wunsch nach Authentizität. Authentisch zu sein bedeutet auch, sich treu zu bleiben, eigene Entscheidungen zu treffen und zu diesen zu stehen – ohne ständige Erklärungen abgeben zu müssen.
Hier kannst du lesen, wie Fehlerkultur betrachtet und durch eine Lernkultur ersetzt wird. Echte Lernkultur setzt aber voraus, dass die Schuldfrage beendet werden muss. Doch die Schuld hat eine heimtückische Zwillingsschwester, die oft unbemerkt die Energie aus Teams und Organisationen saugt: die Rechtfertigung. Wenn wir uns ständig für Vergangenes rechtfertigen, betreten wir eine psychologische Endlosschleife. Ich nenne sie die Rechtfertigungsfalle.
Der Teufelskreis aus Schuld und Rechtfertigung
Die Falle wird durch eine problemorientierte und vergangenheitsfixierte Haltung gespeist. Sie hält dich im Mangelbewusstsein, denn nur im Mangel kann überhaupt ein Problem erkannt werden. Und dort dreht sie sich in einem zermürbenden Kreislauf, der Beziehungen und Produktivität zerstört:
Ein Vorwurf führt zur Schuldzuweisung. Die Schuldzuweisung sucht Schuld. Die Schuld verlangt ein Urteil. Das Urteil führt zur Strafe. Die Strafe erzeugt den Wunsch nach Strafminderung, und diese führt unweigerlich wieder zur Rechtfertigung – womit der Kreislauf von vorn beginnt.
Jeder, der schon einmal in einer solchen Diskussion gefangen war, kennt das Gefühl der Erschöpfung. Es geht nicht mehr um eine Lösung, sondern nur noch darum, wer sich durchsetzt. Ein alter Ausspruch bringt es auf den Punkt: „Wer sich verteidigt, klagt sich an.“ Man kann nicht gewinnen.
Indem wir uns von der Last der Rechtfertigung befreien, öffnen wir uns für ein Leben, das auf unseren wahren Werten und Überzeugungen basiert.
Nun sind Schuld und Urteil eigentlich im juristischen Kontext zu betrachten, dennoch wird es immer wieder auch im zwischenmenschlichen Kontext genutzt. Jeder Vorwurf ist eine Schuldzuweisung und jeder Erklärungsversuch eine Rechtfertigung.
Erklärung vs. Rechtfertigung: Ein schmaler Grat?
Aber müssen wir unser Handeln im Teamkontext nicht nachvollziehbar machen? Brauchen andere nicht eine Erklärung, um etwas zu verstehen? Ja, aber hier liegt der entscheidende Unterschied: Eine Erklärung dient dem zukünftigen Verständnis und der gemeinsamen Ausrichtung. Eine Rechtfertigung dient der Verteidigung einer vergangenen Handlung.
Der Schlüssel liegt darin, ein System zu schaffen, in dem Rechtfertigungen überflüssig werden, weil von vornherein Klarheit und ein gemeinsames Verständnis herrschen.
Scrum: Der Werkzeugkasten zur Demontage der Rechtfertigungsfalle
Anstatt von Menschen zu verlangen, die Falle zu meiden, bietet Scrum ein Framework, das diese Falle systematisch demontiert. Es ersetzt die rückwärtsgewandte Rechtfertigung durch eine vorwärtsgewandte, transparente Ausrichtung.
1. Die Werkzeuge gegen Unklarheit: Radikale Transparenz im Backlog
Die häufigste Ursache für spätere Rechtfertigungen sind unklare oder vergessene Absprachen. Scrum begegnet dem mit einem zentralen Artefakt – dem Backlog:
- single point of truth: Das Backlog ist die einzige Quelle der Wahrheit. was nicht im Backlog steht, ist nicht relevant für das Produkt. Richtig gepflegt verhindert es Debatten über „das haben wir aber anders besprochen“.
- single point of entry: jedwede weitere Quelle sollte aus dem Backlog verlinkt sein, z.B. über ein PBI.
- Akzeptanz Kriterien: machen klar, wodurch mit dem PBI Wert geliefert wird.
Ein gut gepflegtes Backlog – Sprint Backlog, als die aufgabenorientierte Teilmenge des anforderungsorientierten Product Backlogs, schafft ein so hohes Maß an gemeinsamem Verständnis, dass die Frage „Warum hast du das so gemacht?“ gar nicht erst aufkommt. Die Antwort steht für alle sichtbar da.
2. Die Werkzeuge der Ausrichtung: Zukunftsorientierte Events
Scrum-Events sind konsequent darauf ausgelegt, den Blick nach vorne zu richten:
- Sprint Planning: – Das Ziel ist nicht, Arbeit zu verteilen, sondern ein gemeinsames Sprint-Ziel zu formulieren. Das Team verpflichtet sich nicht auf einzelne Aufgaben, sondern auf ein gemeinsames Ergebnis. Die Energie ist von Tag eins an gebündelt. Spätestens am Ende des Sprint Planning sollte es ein gemeinsames Verständnis des Sprint Goals geben, welches als Commitment für das Sprint Backlog gilt.
- Das Daily: Dieses Meeting ist der Todfeind der Rechtfertigung. Es ist kein Statusbericht1) („Ich rechtfertige meine Arbeit von gestern“), sondern ein Abstimmungsmeeting. Die einzige relevante Frage ist: „Was tun wir heute als Team, um unserem Sprint-Ziel näherzukommen?“ Es ist 100% zukunftsorientiert, um auch hier die Handlungsenergie in Richtung des Sprint Ziels zu lenken.
- Backlog Refinement: der Vollständigkeit halber erwähnt: ist kein Scrum Event, aber häufig genutzt, um gemeinsam an der Qualität und der Ordnung im Backlog zu arbeiten.
3. Der sichere Raum für die Vergangenheit: Die Retrospektive
Ja, auch in Scrum blicken wir zurück aber in einem streng geschützten und konstruktiven Rahmen. Und ja, Fehler passieren, aber niemand macht Fehler. Die Retrospektive retro (lat. rückwärts), spektivus (lat. hindurchblickend) ist der einzige Ort, an dem Vergangenes systematisch analysiert wird, aber mit einem klaren Ziel:
- Es geht um das System, nicht um die Person: Wir fragen nicht „Wessen Fehler war das?“, sondern „Was können wir an unserem Prozess oder unserer Zusammenarbeit verbessern, damit uns das nicht wieder passiert?“
- Es geht ums Lernen, nicht ums Rechtfertigen: In diesem Event geht es nicht darum, Entscheidungen zu verteidigen. Ein wunderbarer Satz, um Druck aus dem System zu nehmen, lautet: „Uns ist zu diesem Zeitpunkt einfach nichts Besseres eingefallen.“2) Dieser Satz öffnet die Tür für echtes Lernen, anstatt sie mit Rechtfertigungen zuzuschlagen.
Von der Rechtfertigung zur Entscheidung
Nur im falschen Umfeld, erfordern Entscheidungen auch Begründungen. Dann findet der Grund den Grund, dieser den Grund und so weiter und so fort. Indem wir ein Umfeld aus Transparenz und gemeinsamen Zielen schaffen, verlagern wir den Fokus. Wir müssen uns nicht mehr für vergangene Taten rechtfertigen, weil wir die Kraft haben, zukünftige Entscheidungen zu treffen.
Eine getroffene Entscheidung, die auf einem gemeinsamen Verständnis und klaren Gelingenspraktiken basiert, braucht keine Begründung. Sie ist einfach der nächste Schritt nach vorn.
Der wesentliche Punkt ist, die Handlungsenergie des Teams durch ein gemeinsames Verständnis auf die Zukunft auszurichten. Das ist Kern von Agilität.
1) https://www.scrum.org/resources/blog/wie-du-ein-statusmeeting-ein-daily-scrum-verwandeln-kannst
2) Ich habe diesen Satz von Christo Quiske im Zusammenhang mit vergangenen Entscheidungen gehört
