Nicht der offene Widerstand, sondern die Regel bestimmt
In diesem Artikel widmen wir uns einer besonderen Ausprägung des „Bewahrens“ oder der „Bestands-Rebellen“ – Prinzipienreiter. Diskussionen, die mit den Worten beendet werden „das geht nicht, denn unser Prinzip lautet…“. Die Waffe ist hier nicht offener Widerstand, sondern die Regel selbst.
Ich beginne zunächst mit den negativen Ausprägungen von Prinzipien (wo sie uns nicht helfen) – unter Verwendung einer zugegebenermaßen etwas pathetischen Einleitung:
In der Mitte des Lebens, wenn der Blick in die Vergangenheit zunehmend länger wird als der Blick nach vorne in die Zukunft, stellen sich viele Menschen die Warum Fragen. Nicht in etwa nur warum du dies und jenes getan hast, sondern auch warum du dies und jenes nicht getan hast. Und die Antwort auf diese Fragen sollen deine Prinzipien sein? Weißt du wie Menschen mit Prinzipien alt werden? Einsam und allein mit ihren Prinzipien. Die Rede ist von den Prinzipienreitern. Prinzipien bestimmen hier das Verhalten.
Um wieder etwas allgemeiner zu schreiben. Sollen wir jetzt alle unsere Prinzipien generell über den Haufen werfen? Opportunistisch werden? Natürlich nicht, aber es ist durchaus hilfreich regelmäßig zu überprüfen, ob die Prinzipien noch zu den Umständen passen, die Welt dreht sich schließlich weiter. Und generell gilt doch auch in manchen Situationen: man kann ja auch mal „Fünfe gerade sein lassen“, ohne gleich opportun zu sein.
Die zwei Seiten von Prinzipien: Leitplanke oder Käfig?
Prinzipien sind wie alles im Leben eine Medaille mit zwei Seiten. Dort wo sie Klarheit und Richtung geben und damit einen Standpunkt für Entscheidungen klar herausstellen, steht Inflexibilität gegenüber und verhindert Anpassungsfähigkeit. Leben wir Integrität und Authentizität nach strengen Prinzipien, kann dies im Übermaß zu sozialer Isolation führen. Hier wird das Prinzip vom nützlichen Werkzeug zum unumstößlichen Gesetz. Sollen wir jetzt alle Prinzipien über den Haufen werfen? Natürlich nicht.
Prinzipien helfen dort, wo sie quasi als Kontext fungieren in unserem Wirken.
Prinzipien als Leitplanken verstehen
Einige der wohl bekanntesten Prinzipien in der agilen Arbeit liegen hinter den Werten des agilen Manifests1). Obwohl im direkten Vergleich einer der Wertebeschreibungen (#wertedichotomie) „Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation“ ein klarer Vorzug zu erkennen ist, ist Dokumentation dennoch relevant in der Praxis und kann somit immer wieder zu endlosen Diskussionen führen.
Ein Prinzipienreiter könnte daraus nun ein „wir dokumentieren so wenig wie möglich“ machen, ein anderer ein „jede Änderung muss rechtssicher dokumentiert werden“. Beide machen sich dies zur Regel und aus der eigentlichen Leitplanke aus dem agilen Manifestes entstehen Grabenkämpfe, weil keinem äußeren Bedürfnis genüge getan wird.
Bedürfnisse an Dokumentation beinhalten Eigenschaften wie „Aktualität“, „Struktur und Lesbarkeit für z.B. bestimmte Personengruppen“, „Vollständigkeit“, aber auch „Rechtssicherheit“ und viele weitere. Aber sie sind damit eben nicht die Prinzipien, nach denen dokumentiert werden sollte.
Der Ausweg? Von der Regel zum gemeinsamen Spiel
Der Weg aus dieser Falle führt über eine einfache, aber kraftvolle Verschiebung der Perspektive: Wir müssen von starren Regeln zu gemeinsam vereinbarten Spielregeln kommen, die sich innerhalb der Leitplanken bewegen. Das funktioniert in drei Schritten:
- Vom Prinzip zum Bedürfnis: Statt über Regeln zu streiten, fragen wir nach dem Bedürfnis dahinter. Warum brauchen wir Dokumentation? „Damit neue Teammitglieder sich schnell einarbeiten können.“ „Damit wir im Auditfall rechtssicher sind.“ „Damit wir komplexe Teile des Codes in einem Jahr noch verstehen.“
- Vom Bedürfnis zur gemeinsamen Gelingensbedingung: Basierend auf diesen Bedürfnissen formulieren wir eine „Gelingensbedingung“. Statt „Wenig Dokumentation“ könnte es heißen: „Unsere Dokumentation soll es einem neuen Kollegen ermöglichen, innerhalb von drei Tagen produktiv zu sein.“
- Von der Bedingung zur konkreten Praxis: Aus dieser Gelingensbedingung leiten wir konkrete, flexible Praktiken ab. „Okay, dafür erstellen wir ein Onboarding-Dokument und kommentieren alle öffentlichen Schnittstellen im Code.“
Jetzt haben wir keine starre Regel mehr, sondern lebendige, zweckorientierte Vereinbarungen, die das Team selbst geschaffen hat. Und das Schöne ist, hier können auch individuelle Werte und Bedürfnisse einzelner Mitarbeitender einfließen.
Scrum als Meister der gemeinsamen Spielregeln
Genau hier zeigt sich die Genialität von Frameworks wie Scrum. Es leitet Teams dazu an, ihre eigenen, transparenten Spielregeln zu definieren. Die bekanntesten Beispiele dafür sind keine starren Vorschriften, sondern lebendige Vereinbarungen:
- Definition of Done (DoD): Sie ist nichts anderes als die vom Team gemeinsam beantwortete Frage: „Nach welchen Prinzipien stellen wir sicher, dass unsere Arbeit Qualität hat und wirklich fertig ist?“ Sie ist die ultimative Gelingensbedingung für das Artefact Increment.
- Definition of Ready (DoR): Viele Teams nutzen sie als ihre gemeinsame Spielregel, die besagt: „Nach welchen Prinzipien stellen wir sicher, dass eine Anforderung klar genug ist, um sinnvoll mit der Arbeit zu beginnen?“
Das ist keine Bürokratie. Das sind Ergebnisse eines Dialogs und ersetzen individuelle, starre Prinzipien durch ein gemeinsames, für alle transparentes Commitment. Sie verwandeln ein Feld voller potenzieller Konflikte in ein klar definiertes Spielfeld mit Vereinbarungen, den Praktiken des Gelingens, auf die sich alle geeinigt haben.
Cross-funktionale Teams, wenn sie aus verschiedenen Fachbereichen zusammen arbeiten, sind häufig bemüht, es allen Seiten Recht zu machen. Da kann es je Abteilung andere Zielvorgaben und Prozesse geben. Prinzipien, z.B. für die Zusammenarbeit helfen uns in der Festlegung, wie wir diese Vorgaben erfüllen können und wo sie ggf. nicht erfüllbar sind und einer Anpassung benötigen, um Fokus auf Produkt und Lieferfähigkeit – also dem höheren Zweck – zu lenken. Dies fördert ebenfalls die Teamautonomie und Selbstorganisation. Gleichzeitig lenkt es die Aufmerksamkeit auf die Sachebene.
that’s why I love Scrum …. 🙂
1) https://agilemanifesto.org/

