Das Missverständnis vom Fehler: Warum wir eine Lernkultur brauchen, keine Fehlerkultur

Schaffen Sie ein furchtloses Team. Vergessen Sie die ‚Fehlerkultur‘. Lernen Sie den entscheidenden Unterschied zwischen vermeidbaren Fehlern und wertvollen Experimenten und schaffen Sie mit psychologischer Sicherheit eine echte Lernkultur, die Innovation fördert.

Die Fehlerkultur missverstanden

In der Diskussion um moderne Arbeitswelten begegnet uns oft der Satz: „Wir brauchen eine offene Fehlerkultur!“ Manchmal klingt es fast so, als sei es das Ziel, absichtlich Fehler zu machen. Doch diese Sichtweise ist in sich fehlerhaft. Ein Fehler, den man bewusst begeht, ist kein Fehler mehr – es ist eine Entscheidung. Ein echter Fehler ist etwas, das uns passiert, nicht etwas, das wir machen. Die Einsicht, dass eine Handlung fehlerhaft war, folgt immer erst danach.

Eine provokante Gegenthese: Wäre der Mensch genetisch auf Fehler ausgerichtet, würden wir als Spezies vermutlich nicht mehr existieren.

Lassen wir die Semantik beiseite und fragen uns: Was bedeutet „Fehlerkultur“ wirklich? Das Wort Fehler hat zunächst eine negative Konnotation. Im Kern beschreibt der Begriff der Fehlerkultur, wie ein System – sei es ein Team, ein Unternehmen oder eine Gesellschaft – mit dem Unerwarteten, dem Scheitern und dessen Konsequenzen umgeht. Es geht nicht darum, Fehler zu zelebrieren, sondern darum, die Angst vor ihnen abzubauen.

Mehr als nur „keine Strafen“: Das Fundament der psychologischen Sicherheit

Von der Fehlerkultur zur Lernkultur. Eine echte Lernkultur beginnt dort, wo die Schuldfrage endet. Statt zu fragen: „Wer hat den Fehler gemacht?“, fragt eine reife Organisation: „Was hat dazu geführt, dass dieser Fehler passieren konnte?“. Die Diskussion wird entpersonalisiert. Strafen oder öffentliche Zurechtweisungen erzeugen Angst, und Angst ist der größte Feind von Innovation und Lernen. Sie führt dazu, dass Probleme verschwiegen, Risiken vermieden und der Status quo verteidigt wird.

Das Fundament für einen konstruktiven Umgang mit Fehlern ist die psychologische Sicherheit. Dieser von der Harvard-Professorin Amy Edmondson geprägte Begriff beschreibt ein Klima, in dem sich Teammitglieder trauen, zwischenmenschliche Risiken einzugehen. Das bedeutet: Man kann Fragen stellen, Bedenken äußern, unfertige Ideen teilen und ja, auch Fehler zugeben, ohne Angst vor Demütigung oder Bestrafung haben zu müssen. Ohne dieses Fundament ist jede Rede von einer „Fehlerkultur“ nur ein leeres Lippenbekenntnis.

Nicht jeder Fehler ist gleich: Der entscheidende Faktor des Umfelds

Der wohl größte Denkfehler in der Debatte ist die Annahme, alle Fehler seien gleichwertig. Sind sie nicht. Der Kontext, in dem ein Fehler passiert, ist entscheidend. Hier hilft das Cynefin-Framework von Dave Snowden, um Klarheit zu schaffen:

  • Das einfache Umfeld (Clear/Obvious): Stellen Sie sich einen Handwerker vor, der den Kalt- und Warmwasserhahn vertauscht. Hier gibt es eine klare Best-Practice, eine richtige Vorgehensweise. Ein Fehler in diesem Kontext ist oft ein Prozessfehler, ein Mangel an Aufmerksamkeit oder unzureichende Prüfung. Solche Fehler sind vermeidbar und führen zu Recht zu einem Vertrauensverlust. Hier geht es nicht um Lernen, sondern um Qualitätssicherung.
  • Das komplizierte Umfeld (Complicated): Hier arbeiten Experten, die ein Problem analysieren und eine Lösung erarbeiten. Es gibt mehrere richtige Lösungswege. Ein Fehler kann hier durch eine falsche Analyse oder fehlendes Wissen entstehen, ist aber im Nachhinein nachvollziehbar. Auch hier ist das Ziel, Fehler zu minimieren.
  • Das komplexe Umfeld (Complex): Das ist die Heimat der agilen Produktentwicklung, der Innovation und der Strategie. Hier gibt es keine richtigen Antworten im Voraus. Ursache und Wirkung sind erst im Nachhinein erkennbar. Wir wissen nicht, ob das neue Feature beim Kunden ankommt oder ob die neue Marketingstrategie funktioniert. In diesem Umfeld können wir gar nicht anders, als Hypothesen aufzustellen und Experimente durchzuführen.

In einem komplexen Umfeld ist ein „Fehler“ kein Betriebsunfall, sondern eine notwendige Quelle von Wissen. Das Scheitern der Hypothese ist ein Lernerfolg.

Von der Fehlerkultur zur Lernkultur: Scheitern als Motor des Fortschritts

Genau hier vollzieht sich die entscheidende Wende: Im komplexen Raum brauchen wir keine Toleranz für Fehler, sondern eine aktive Kultur des Lernens. Der bekannte Leitsatz „fail fast and learn“ bedeutet nicht, schlampig zu arbeiten. Er bedeutet, Risiken in kleinen, kontrollierten Schritten einzugehen, um so früh wie möglich Feedback vom Markt oder von der Realität zu bekommen.
Wie in der Wissenschaft, wo eine Hypothese an der Erfahrung scheitern muss (Falsifizierbarkeit1)), arbeiten wir auch im agilen Umfeld evidenzbasiert. Jedes Experiment liefert Daten, die uns helfen, die nächste, bessere Entscheidung zu treffen.

In der Prognose (Vorhersage) kannst du kein richtig oder falsch einschätzen

Eine positive Lernkultur fördert so Innovation, weil sie die Angst vor dem Scheitern durch die Neugier auf das Ergebnis ersetzt. Lernen und wachsen wird so zu einer gemeinsamen Aufgabe, die auf Vertrauen, Neugier und der Erkenntnis basiert, dass im Unbekannten der größte Fortschritt verborgen liegt.

Lernen und wachsen – gemeinsam als Team


 Methoden, die sich in der Praxis bewährt haben

  1. Theorie des konstruktiven Scheiterns: Wissenschaftliche Forschung zeigt, dass konstruktives Scheitern – das Lernen aus Fehlern – zu tieferem Verständnis und Innovation führen kann. Dieses Konzept betont, dass Fehler als Gelegenheiten zum Lernen und zur Verbesserung gesehen werden sollten. Ein klassisches Werk in diesem Bereich ist „The Innovator’s Dilemma“ von Clayton Christensen, das implizit beschreibt, wie das Vermeiden von (potenziell scheiternden) disruptiven Projekten etablierte Firmen zu Fall bringt. Direkter jedoch befasst sich Forschung im Bereich „Organizational Learning“ damit. Z.B. beschreiben Cannon & Edmondson in „Failing to Learn and Learning to Fail“ (2005), wie Organisationen intelligentes von unintelligentem Scheitern unterscheiden und daraus lernen können.
  2. Psychologische Sicherheit: Studien von Amy Edmondson und anderen zeigen, dass eine Kultur der psychologischen Sicherheit, in der Mitarbeitende sich frei fühlen, Ideen zu äußern und Fehler zuzugeben, entscheidend für das Lernen und die Innovation in Teams ist. Ihr Buch „The Fearless Organization: Creating Psychological Safety in the Workplace for Learning, Innovation, and Growth“ (2018) ist das Standardwerk. Googles „Project Aristotle“, eine interne Studie zu den Faktoren erfolgreicher Teams, identifizierte psychologische Sicherheit als den mit Abstand wichtigsten Faktor.
  3. Feedback-Schleifen: Die Bedeutung von regelmäßigen Feedback-Schleifen, um Lernprozesse zu unterstützen und kontinuierliche Verbesserungen zu ermöglichen, wird in der pädagogischen und organisatorischen Forschung hervorgehoben. Die Arbeit von John Hattie („Visible Learning“, 2008) zeigt im Bildungskontext, dass Feedback einer der wirkungsvollsten Einflussfaktoren auf den Lernerfolg ist. In der Organisationsentwicklung ist das Konzept im PDCA-Zyklus (Plan-Do-Check-Act) von W. Edwards Deming verankert, der die Grundlage für kontinuierliche Verbesserungsprozesse (wie in Lean und Agile) bildet.
  4. Lernorientierte Führung: Führungskräfte spielen eine Schlüsselrolle bei der Förderung einer Lernkultur. Forschungsergebnisse legen nahe, dass Führungskräfte, die eine lernorientierte Haltung annehmen und Fehler als Lerngelegenheiten betrachten, die Innovationsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit ihrer Teams steigern können. Die Arbeit von Carol S. Dweck zum „Growth Mindset“ („Mindset: The New Psychology of Success“, 2006) ist hier zentral. Führungskräfte, die ein Growth Mindset fördern, sehen Herausforderungen und Fehler als Lernchancen, nicht als Beweis für mangelnde Fähigkeit. Auch Konzepte wie „Servant Leadership“ (Robert K. Greenleaf) betonen die unterstützende und entwickelnde Rolle der Führung.
  5. Die Kopfstandmethode, auch bekannt als „umgekehrtes Brainstorming“, ist eine Kreativitätstechnik, bei der Probleme oder Herausforderungen umgekehrt betrachtet werden. Statt direkt nach Lösungen zu suchen, konzentriert man sich darauf, Wege zu finden, wie ein Ziel oder Projekt scheitern könnte. Diese Methode fördert kreatives Denken und hilft, potenzielle Probleme und Fehlerquellen zu identifizieren. Die Methode der Inversion ist ein mentales Modell, das unter anderem vom Investor Charlie Munger popularisiert wurde („Invert, always invert“). Es geht darum, ein Problem rückwärts zu denken („Wie kann ich dieses Projekt garantiert zum Scheitern bringen?“), um so Risiken, Hindernisse und Denkfehler aufzudecken, die man bei der direkten Lösungsfindung übersehen hätte. Es ist ein Standardwerkzeug in Kreativitäts- und Problemlösungsworkshops.
    • Anwendung in der Lernkultur: In einer Lernumgebung kann die Kopfstandmethode dazu verwendet werden, Lernende dazu anzuregen, über mögliche Fehler und Hindernisse in ihrem Lernprozess nachzudenken. Indem sie aktiv Wege erkunden, wie sie scheitern könnten, können sie proaktiv Strategien entwickeln, um diese Fallstricke zu vermeiden. Dies fördert eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Lernstoff und hilft, eine robustere und fehlertolerante Lernumgebung zu schaffen.
  6. Poka-Yoke ist ein japanisches Managementkonzept, das ursprünglich in der Toyota-Produktion entwickelt wurde. Es bezieht sich auf Techniken zur Fehlervermeidung, die darauf abzielen, einfache, aber effektive Mechanismen einzuführen, um menschliche Fehler in Prozessen zu verhindern. In einer Lernkultur kann Poka-Yoke als Metapher für Systeme und Prozesse dienen, die so gestaltet sind, dass sie Fehler verhindern, bevor sie auftreten. Entwickelt wurde das Konzept von Shigeo Shingo, einem der Architekten des Toyota-Systems in den 1960er Jahren. Das klassische Beispiel ist die SIM-Karte, die durch ihre abgeschrägte Ecke nur auf eine einzige, korrekte Weise ins Handy passt. Wie im Artikel korrekt eingeordnet, ist dies eine Technik für das einfache/offensichtliche Umfeld des Cynefin-Frameworks, um bekannte, wiederholbare Fehler zu verhindern.
    • Anwendung in der Lernkultur: Im Kontext der Lernkultur kann Poka-Yoke als Ansatz zur Entwicklung von Ausbildungs- und Arbeitsprozessen verstanden werden, die intuitiv und fehlertolerant sind. Dies bedeutet, Lernmaterialien und -umgebungen so zu gestalten, dass sie Missverständnisse und Fehler minimieren und gleichzeitig das Lernen und die Entdeckung fördern.

Kolumbus soll durch einen Navigationsfehler Amerika entdeckt haben – wobei ich eher denke, dass die eingeschlagene Richtung eine bewusste Entscheidung war – und damit kein Fehler, aber wir können ihn nicht mehr fragen 🙁


1*) https://de.wikipedia.org/wiki/Falsifikationismus#Falsifizierbarkeit