Das Problem mit den Problemen: Warum wir sie heimlich lieben und wie wir uns befreien

Entdecke, warum wir Probleme heimlich lieben und wie wir uns aus der reaktiven Falle befreien. Lerne, wie Scrum den Fokus auf das kreative Gestalten der Zukunft lenkt. Denn empirische Prozesssteuerung wartet nicht auf Probleme!

„Keine Probleme zu haben, ist das größte Problem von allen“, sagte einst Taiichi Ohno, einer der Väter des Toyota-Produktionssystems. Dieser Satz scheint ein Mantra für viele Organisationen zu sein. Ein Aufruf zur ständigen Verbesserung. Wir sollen Probleme aufspüren und lösen. Jede Veränderungshandlung wird mit der Frage flankiert: „welches Problem lösen wir hier eigentlich gerade?“.

Doch was genau ist ein Problem eigentlich und ist Problemlösung der Königsweg?

Ein Problem ist immer die individuelle Identifikation mit dem Ereignis

Es gibt Ereignisse, Situationen und Umstände. Über die Zeit unverändert werden Umstände zu Zuständen. Erst durch unsere individuelle Identifikation – gefärbt durch die Brille unserer eigenen Wahrnehmung, unseres Egos, unserer Ängste etikettieren wir daraus ein Problem. D.h. im Umkehrschluss ist kein Ereignis von Natur aus ein Problem und damit gibt es eigentlich gar keine Probleme. Eigentlich….

Nutzen wir weiterhin das Etikett Problem, bleibt im Teamkontext dennoch die individuelle Identifikation erhalten. So muss mein Problem nicht zwangsläufig auch dein Problem sein. Was für die einen eine Katastrophe ist, ist für andere eine unbedeutende Randnotiz. Nicht nur ein potentiell hoher – je nach Klarheit des Problems – Aufwand ist nötig für die Entwicklung eines gemeinsamen Problemverständnisses1), was zu endlosen Debatten führen kann.

Die heimliche Liebe zum Problem – ein Widerspruch?

Rufen uns noch einmal in Erinnerung: müssen wir immer ein Problem lösen, wenn wir etwas verändern wollen? Auch hier ist die Antwort zunächst einmal paradox. Es gibt ein Ja und ein Nein.

Ja, denn ein klares Problem bietet uns etwas, woran sich unser Verstand festhalten kann. Das Problem stellt uns in eine Rolle des Problemlösenden. Die Aufgabe ist definiert, mein individueller Wert wird durch das Beheben des Mangels sichtbar. Das Lösen gibt ein Gefühl der Befriedigung und Kompetenz.

Nein, denn ich muss schon sehr gut überlegen, wen ich frage, wo ist das oder dein Problem? Denn in der Antwort ist immer auch der Grad des Beharrungsverhaltens erkennbar. In der Veränderungsresistenz2) (Bestandsrebellen) sind wir Menschen Meister geworden darin, Probleme nicht zu sehen oder bewusst auszublenden. In der kognitiven Dissonanz lösen wir nicht ein Problem, sondern wir verändern unsere Wahrnehmung auf das Problem. In solchen Fällen hilft es wenig, erst dann tätig zu werden, wenn ein Problem da ist – denn es wird nie kommen.

Da man sich ungern eingesteht (Mit-)Verursacher eines Problems zu sein, wird es auch gerne zerredet. Gerade in der Außenwirkung spricht man nicht gerne von Problemen Je länger wir reden, desto unwesentlicher wird das Problem und irgendwann scheint es gar nicht mehr da zu sein. Scheint so, denn…

Jede Medaille hat zwei Seiten und so verhält es auch mit dem Problem

In jedem Problem liegt immer auch ein (versteckter) Vorteil. Löst du das Problem, nimmst du gleichzeitig den Vorteil. Frage dich selbst einmal, was du verändern müsstest, um das Problem zu lösen mit dem du dich identifiziert hast? In den objektivierbaren Antworten findest du die Vorteile, die dein Problem für dich hat. Im Teamkontext erschwert dies wiederum die Schaffung eines gemeinsamen Problemverständnisses.

Merkst du selbst? Fokus und Aufmerksamkeit liegen noch immer auf dem Problem3)

Die Falle des Problem-Fokus

Das Problem ist, wir wollen nicht ohne Probleme leben. Denn nur in den Problemen erkennen wir den Mangel. Durch selektive Wahrnehmung entstehen unterschiedlichen Wertungen und Urteile, die führen nach außen zu unterschiedlichen Meinungen. Hierin liegt der potentielle Vorteil in der Erkenntnis des Mangels und der Gelegenheit zur Veränderung. Es bleiben jedoch weiterhin nur Problemlösungsstrategien.

Wir bekommen wir den Fokus Wechsel hin? Nutzen wir statt Problem ein anderes Wort: Leidensdruck. Was motiviert uns zur Veränderung? Entweder weg von: die Angst vor etwas oder hin zu: die Sehnsucht nach etwas Neuem. Die komfortable Krise hierbei ist jedoch, dass eine bekannte Situation oft weniger beängstigend ist, als eine unbekannte, offene Zukunft. Es bietet uns eine komfortable Dysfunktion, in der die Regeln klar sind und funktionierende Kompensationsmechanismen etabliert sind. Dennoch gilt, dass alle unsere Entscheidungen auf dieser Motivationslinie liegen, entweder weg von oder hin zu. Frage dich einmal selbst bei Entscheidungen, die du getroffen hast. Wo liegen sie auf dieser Motivationslinie zwischen der Angst, weg von und der Sehnsucht hin zu. Hier wird klar, dass immer beide Seiten wahr und existent, also gleich-gültig sind und Entscheidungen immer nur auf Basis dieser Polaritäten getroffen werden.

Da dem so ist, brauchen wir doch jetzt nur noch unsere Aufmerksamkeit lenken, in dem Bewusstsein der gleich-Gültigkeit.

Der entscheidende Wandel: Von reaktiv zu kreativ

Die Lösung liegt daher in der bewussten Verlagerung unserer Denkweise. Es ist der Tausch eines einzigen Buchstabens, der alles verändert. Es ist die Attitude hinter der Entscheidung, die auf der Motivationslinie getroffen wird.

  • Reaktiv zu sein, bedeutet auf ein vergangenes Ereignis zu reagieren. Man ist im Modus der Vergangenheitsbewältigung. Man ist damit beschäftigt, die Scherben aufzukehren.
  • Kreativ zu sein, bedeutet einen besseren, zukünftigen Zustand zu erschaffen. Man gestaltet die Möglichkeit, dass Scherben gar nicht erst entstehen.

Statt stundenlang das Problem zu analysieren („problem talk“), konzentriert man sich darauf, eine wünschenswerte Zukunft zu entwerfen und die nächsten kleinen Schritte dorthin zu identifizieren („solution talk“). Es ist der Wandel von der Wirklichkeitskonstruktion zur Möglichkeitskonstruktion.

Scrum als das ‚Betriebssystem‘ für den kreativen Modus

Scrum ist in seiner DNA darauf ausgelegt, Teams aus der reaktiven Problemfalle herauszuführen und in einen kreativen Gestaltungsmodus zu versetzen.

Die drei Säulen als proaktiver Kreislauf

Die empirische Prozesssteuerung von Scrum – Transparenz, Überprüfung, Anpassung – ist nicht reaktiv, sie ist proaktiv. Sie wartet nicht auf ein Problem!

  • Transparenz (transparancy) schafft eine gemeinsame Sicht auf die Realität – nicht auf ein Problem, sondern auf den aktuellen Stand der Wertschöpfung.
  • Überprüfung (inspection) ist kein Audit, sondern ein neugieriger Blick in die Zukunft: „Bringt uns das, was wir tun, unserem Ziel näher?“
  • Anpassung (adaption) ist keine Fehlerkorrektur, sondern die intelligente Kursänderung auf dem Weg zu einem wertvolleren Zustand.

Das Product Backlog als Möglichkeits-Katalog

Ein gutes Backlog ist keine Bug-Liste oder ein Katalog von Kundenproblemen. Es ist eine geordnete Sammlung von Hypothesen darüber, wie der Wert des Produkts in Zukunft gesteigert werden kann. Die Akzeptanzkriterien beschreiben nicht, wie ein Fehler behoben wird, sondern wie der Erfolg des neu geschaffenen Wertes aussieht.

Das Sprint-Ziel als kreative Mission

Nichts verkörpert den kreativen Modus besser als das Sprint-Ziel. Es lautet nie: „Behebe Bug-Cluster X“, sondern: „Ermögliche unseren Nutzern, mit einem Klick einen Bericht zu erstellen.“ Es fokussiert die gesamte Energie des Teams auf die Erschaffung eines neuen, besseren Zustands.

Gewohnheit ist ein Anker, der uns in bekannten Gewässern festhält, selbst wenn das offene Meer lockt.

Im Mangelbewusstsein gefangen, werden wir uns immer im Kreis der Reaktion und Rechtfertigung drehen. Scrum bietet uns das Handwerkszeug, diesen Anker zu lichten, den Blick vom Problem zu lösen und uns auf den unendlichen Horizont der Möglichkeiten zu konzentrieren, den wir gemeinsam kreativ gestalten können. So lassen wir die Kuh fliegen


1) Situationen wie z.B. der Klimawandel und durch diesen hervorgerufene Ereignisse, die wissenschaftlich in der Attributionsforschung untersucht werden, zeigen es uns jeden Tag

2) https://www.svenja-hofert.de/psychologie/warum-wir-uns-veraenderungen-so-beharrlich-verweigern-und-wie-es-doch-gehen-kann/

3) Das ist vergleichbar mit dem Phänomen, dass du plötzlich auf der Straße viele Autos der Marke siehst für die du dich gerade interessierst. Es sind jedoch nicht mehr Autos geworden, sondern deine Aufmerksam ist dorthin gelenkt worden.

Du kannst ein Problem niemals mit der Denkweise lösen, mit der es entstanden ist. (angebl. Albert Einstein)